10 Jahre Kinderschutzambulanz Hannover
Ende Januar 2011 startete das Projekt Kinderschutz mit der Kinderschutzambulanz am Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) unter Förderung des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung. Hier unterstützen Expertinnen und Experten niedergelassene, klinisch tätige und im Öffentlichen Gesundheitsdienst beschäftigte Ärztinnen und Ärzte in Niedersachsen – unabhängig von einer Strafanzeige – bei der Diagnose von Kindesmisshandlung und -missbrauch: über eine Hotline sowie durch klinisch-forensische Untersuchungen, Fortbildungen oder Online-Beratungen (Telekonsile). Wir haben die Leiterin des Projekts Kinderschutz, Prof. Dr. med. Anette S. Debertin, befragt:
Frau Debertin, als Leiterin des Projekts Kinderschutz können Sie auf 10 Jahre Kinderschutzambulanz zurückblicken. Das ehemalige Modellprojekt hat sich schnell zur festen Einrichtung etabliert. Was macht dieses Projekt so besonders?
Mit dem Projekt Kinderschutz und der Kinderschutzambulanz sind in Niedersachsen Strukturen geschaffen worden, die zu einer Verbesserung der Diagnostik und damit auch der Früherkennung bei Kindesmisshandlung und sexualisierter Gewalt bei Kindern geführt haben. Dieses sensible Spezialgebiet der "Gewaltmedizin" erfordert profundes Detailwissen über Differentialdiagnosen, Normvarianten etc. Den bisher bestehenden Unsicherheiten bei klinisch-tätigen Ärztinnen und Ärzten mit Fokus auf klinisch-therapeutischen Fragestellungen wird mit unserem spezialisierten fachlich fundierten Angebot rechtsmedizinischer Beratung und qualifizierter medizinischer Diagnostik begegnet.
Der Zugang zu einer niederschwelligen rechtsmedizinischen Expertise – nun auch unabhängig von einer Strafanzeige – leistet einen wichtigen Beitrag zum Schließen der bisher inakzeptablen Lücke im Umgang und Diagnostik von Kindesmisshandlungsopfern. Das trägt idealerweise auch zu einer Erhellung des geschätzt sehr hohen Dunkelfeldes bei. Rechtsmedizinisches Expertenwissen steht flächendeckend und unkompliziert bereit und ermöglicht eine schnelle forensisch-ambulante Befundsicherung und Diagnostik außerhalb des klinischen Alltags. Damit wird die interdisziplinäre Zusammenarbeit verbessert und eine effektive Handlungsweise im Sinne eines verbesserten Opferschutzes ermöglicht.
Wir freuen uns, dass wir uns in den vergangenen Jahren mit den verschiedenen Projektbausteinen zu einem verlässlichen und qualifizierten Ansprechpartner entwickelt haben – zum Schutz der Kinder, zur Wahrung der Elternrechte und bei der Sicherung von Beweisen.
Was können Sie zu den Erfolgen der Kinderschutzambulanz sagen?
Seit dem Start des Projekts wurden wir in über 1.670 Fällen telefonisch, schriftlich und online durch Ärztinnen und Ärzte kontaktiert. Die hohe Nachfrage aus Kliniken und Praxen und die bisherigen Ergebnisse bestätigen die Notwendigkeit unseres rechtsmedizinischen niederschwelligen Angebots. Einer schnellen und sicheren Diagnose und Intervention kommt gerade in dem sensiblen Bereich der Kindesmisshandlung aufgrund großer Wiederholungsgefahr und an Intensität auch steigernder Gewalt eine herausragende präventive bis hin zur lebensrettenden Bedeutung zu.
Im Rahmen der klinisch-forensischen Untersuchungen und Tele-/Aktenkonsile konnte neben der Bestätigung, forensisch gesicherter Dokumentation und Spurensicherung sowie der nachfolgend eingeleiteten Ermittlungsverfahren in etwa einem Viertel der vorgestellten Fälle der Verdacht auch entkräftet werden. Hierbei handelte es sich auch um Fehlinterpretationen seitens der behandelnden Ärztinnen und Ärzte. So konnte das Kinderschutzprojekt einerseits einer Bagatellisierung der Befunde entgegenwirken. Andererseits konnte es auch zur Entlastung beitragen und beispielsweise unverhältnismäßige Sanktionen sowohl der Kinder als auch fälschlich Beschuldigter vermeiden. Die hier geübte interdisziplinäre Kooperation mit qualifizierten Partnern führt also zu einer Verbesserung der Diagnosesicherheit und damit des Opferschutzes und kann Justiz und (Jugend-)Ämter entlasten.
Das Projekt Kinderschutz mit der Kinderschutzambulanz bietet Unterstützung und Beratung bei der Diagnose von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch – sowohl über eine Telefonhotline und Telekonsile (Online-Beratung) als auch mit Untersuchungen in der Kinderschutzambulanz in der MHH und der Außenstelle in Oldenburg oder auch wohnortnah. Wie wurden diese kostenlosen Angebote denn im Einzelnen genutzt?
Seit Einführung des Projektes vor sechs Jahren wurden bisher 654 Kinder konsiliarisch untersucht. Die Vorstellung der zwischen wenige Tage und maximal 18 Jahren alten Säuglinge, Kinder und Jugendlichen erfolgte in 365 Fällen (55,8 Prozent) wegen des Verdachts auf einen sexuellen Missbrauch, gefolgt von den Verdachtsfällen nach vermuteter körperlicher Gewalt mit 275 Fällen (42,0 Prozent). Beide Misshandlungsformen fanden sich in 14 Fällen (2,2 Prozent). In allen vorbezeichneten Fällen bekamen die zuweisenden Ärztinnen und Ärzte nach Schweigepflichtsentbindung einen schriftlichen Befundbericht mit Falleinschätzung und gegebenenfalls Empfehlungen zur weiteren Intervention.
In bisher 336 Fällen wurden die Befunde und/oder Bildmaterial online als Telekonsile zugesandt und in 35 Fällen erfolgte eine Zusatzbeurteilung nach Aktenlage. Zusätzlich wurden bisher zahlreiche Telefonberatungen (n>644) durchgeführt.
Bei den so genannten Zuweisern handelt es sich in etwas über 50 Prozent um (Kinder-)Kliniken, gefolgt von niedergelassenen Kinder-, Haus- und Frauenärzten. Dabei wurden die Anfragen niedersachsenweit gestellt, sodass erfreulicherweise eine gute Flächendeckung erreicht werden konnte.
Wer nutzt denn die Hotline der Kinderschutzambulanz? Steht dieser telefonische Rufdienst nur Ärztinnen und Ärzten zur Verfügung?
Die Hotline richtet sich ursprünglich und gemäß dem formulierten Projektziel an niedergelassene, klinisch tätige und im Öffentlichen Gesundheitsdienst beschäftigte Ärztinnen und Ärzte in Niedersachsen. Zusätzlich erhalten wir jedoch auch Anfragen von Jugendämtern, Sozialdiensten, Frauenhäusern, Kindergärten, Familienhebammen und anderen. Hier erreichen uns insbesondere Fragestellungen zur Interpretation von Befunden, zum Fallmanagement und Intervention sowie zu Unsicherheiten im Umgang mit der Datenübermittlung und dem Bundeskinderschutzgesetz nach vermuteter Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch.
Und wie wird die Online-Beratung angenommen?
Auch die Online-Beratungen erfahren eine ständig wachsende Nachfrage. Sie bieten in unserem Flächenland Niedersachsen die Möglichkeit einer ortsunabhängigen, zeitsparenden, standardisierten, effektiven Einschätzung und Hilfestellung bei der Diagnostik.
Das System "Cryptshare" wird von der Medizinischen Hochschule Hannover vorgehalten und bietet eine unkomplizierte Lösung zur geschützten Datenübermittlung. Details hierzu sind abrufbar unter cryptshare.mh-hannover.de. So können die behandelnden Ärztinnen und Ärzte vor Ort unklare Befunde bei Kindern fotografieren, gegebenenfalls mit Befunduploads von Röntgenbildern etc. ergänzen und für eine Bewertung anonymisiert oder pseudonymisiert per Internet an das Institut für Rechtsmedizin schicken.
Wie hat sich das letzte Jahr mit den Maßnahmen zur Einschränkung der Corona-Pandemie auf Ihre Arbeit ausgewirkt? Hat sich das bei den Beratungsanfragen bemerkbar gemacht?
Die SARS-CoV-2-Pandemie stellt insbesondere das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen. Möglicherweise kommt es durch die derzeitige Situation und das Fehlen von Schutzinstanzen zu einer Zunahme von Misshandlungen, Missbrauch und Vernachlässigung. Das Aufsuchen von medizinischer Hilfe – sowohl bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten als auch in den Krankenhäusern – kann durch Ansteckungsgefahr und veränderte Zugangsmöglichkeiten erschwert sein. Die Kinderschutzambulanz hat daher zur Risikominimierung zusätzlich zu den bewährten Telekonsilen seit April 2020 die Möglichkeit einer Videosprechstunde als ergänzendes telemedizinisches Angebot bereitgestellt. Dieses Angebot steht sowohl Ärztinnen und Ärzten als auch der Jugendhilfe in Niedersachsen zur Verfügung.
Insgesamt haben wir im letzten Jahr eine erhöhte Anfrage nach diagnostischer Unterstützung erhalten und insbesondere die Anzahl unserer Telekonsile ist verglichen zum Vorjahr um etwa 50 Prozent angestiegen.
Welchen Beitrag leisten Fortbildungsveranstaltungen zum Thema Kinderschutz, Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch?
Die Vermittlung spezifischer forensischer Kenntnisse, Untersuchungstechniken und Besonderheiten für eine fachlich fundierte Auseinandersetzung sollen helfen, Fachgrenzen zu überwinden und Handlungssicherheiten zu stärken. Aus unserer Sicht leisten kontinuierliche Fortbildungen sowohl bei Medizinern als auch bei im Kinderschutz tätigen Fachkräften einen wesentlichen Beitrag für eine nachhaltige Verbesserung und einen dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechenden Umgang mit körperlicher Kindesmisshandlung und sexualisierter Gewalt bei Kindern.
Eine Fachveranstaltung, die als Festakt zum Jubiläum geplant war, konnte aus gegebenem Anlass nicht stattfinden – wird das noch nachgeholt?
Unsere geplante Festveranstaltung musste leider aufgrund der Pandemie und dem sehr dynamischen Infektionsgeschehen mit ungewissem Fortgang abgesagt werden. Ein Nachholtermin ist nicht geplant.
Wie sieht denn die weitere Planung aus?
Der Zugang zu einer niederschwelligen rechtsmedizinischen Versorgung entspricht den gesellschaftlichen Anforderungen und dient der Verbesserung der Wahrheitsfindung, Rechtssicherheit und dem Kinder- und Opferschutz – in besonderem Maße. Zusätzlich zu der Erhöhung der Diagnosesicherheit bei Verdacht auf Kindesmisshandlung sowie sexualisierter Gewalt und Verbesserung der interdisziplinären Zusammenarbeit werden belastende Doppeluntersuchungen oder stationäre Aufenthalte der Kinder durch schnelle und gezielte Empfehlungen vermieden.
Zukünftig möchten wir die interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammenarbeit und Vernetzung noch weiter ausbauen und wünschen uns eine Verstetigung unserer Strukturen. Die Entwicklung und Fortführung eines hohen fachlichen Standards im Umgang mit vermuteter Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch und das Angebot niederschwelliger Beratung und Unterstützung von Ärztinnen und Ärzte auch in der Fläche stellen aus unserer Sicht unverzichtbare Maßnahmen eines effektiven Kinderschutzes dar.
Gerne würden wir unser Angebot auch auf die Kinder- und Jugendhilfe ausweiten und wünschen uns verbindliche Wege der Kooperation mit angemessener Finanzierung.
Aktuell arbeite ich zudem als Mitglied der "Monitoring"-AG als Nachfolgeeinrichtung der Kommission zur Prävention von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen des Landespräventionsrates Niedersachsen und der "Enquetekommission zur Verbesserung des Kinderschutzes und zur Verhinderung von Missbrauch und sexueller Gewalt an Kindern", um dem Anliegen zu dienen und eine Verbesserung an den Schnittstellen zu erwirken.
Wir danken dem Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, der Förderstiftung MHH plus, der Wilhelm-Hirte Stiftung und der Gesellschaft der Freunde der MHH e.V. und anderen Spendern für die Förderung und Unterstützung.
Kontakt
Hotline der Kinderschutzambulanz
T 0511 / 532 55 33
montags bis donnerstags 8.00 bis 16.00 Uhr
freitags 8.00 bis 14.00 Uhr
rechtsmedizin.kinderschutz@mh-hannover.de
www.mhh.de/kinderschutz