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Vorstellung der Zahlen kindlicher Gewaltopfer – Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik 2022

Kinder haben ein Recht auf Schutz in der digitalen Welt, doch Soziale Medien verschärfen die Gefahr von Missbrauch. Das zeigen die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2022 zu Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche. Am 23. Mai 2023 wurden die Zahlen von der Unab­hängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindes­miss­brauchs (UBSKM) Kerstin Claus und dem Präsidenten des Bundes­kriminalamtes (BKA) Holger Münch in Berlin vorgestellt. Claus fordert in diesem Zusammenhang Dunkel­feld­forschung und ein Forschungs­zentrum in Deutschland, um Daten kontinuierlich zusammenzuführen und sie für Politik und Praxis nutzbar zu machen.

Laut PKS sind im Jahr 2022 die Fälle von sexuellem Kindes­missbrauch mit 15.520 Fällen auf einem gleichbleibend hohen Niveau wie in 2021 (15.507 Fälle). Einen Anstieg um 10,3 % auf über 48.800 Fälle gab es bei den Missbrauchs­darstellungen von Kindern und Jugend­pornografie. Laut PKS 2022 hat sich auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Miss­brauchs­dar­stellungen und jugend­porno­grafische Inhalte besaßen, herstellten, erwarben oder insbesondere über die sozialen Medien weiter­verbreiteten, in Deutschland seit 2018 mehr als verzwölf­facht – von damals 1.373 Tat­verdächtigen unter 18 Jahren auf 17.549 Tat­ver­dächtige (davon 5.553 Kinder unter 14 Jahren und 11.996 Jugend­liche über 14 Jahre) in 2022. Das Dunkelfeld ins­gesamt und auch der Anteil an Straf­taten, von denen die Polizei keine Kenntnis erhält, ist um ein Vielfaches größer.

Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA): "Wenn in Deutschland noch immer jeden Tag 48 Kinder Opfer sexueller Gewalt werden, können wir mit stagnierenden Fallzahlen nicht zufrieden sein. Sie bedeuten ein gleichbleibend hohes Leid für wehrlose kindliche Opfer. Gewalt gegen Kinder zu unterbinden und sexuellen Missbrauch zu beenden, sind unsere obersten Prioritäten. Doch für erfolgreiche Ermittlungen brauchen wir den passenden rechtlichen Rahmen und die notwendigen Befugnisse. Darum bleibe ich dabei: Uns fehlt ein entscheidendes Instrument für unsere Ermittlungen, das uns zur Verfügung stehen muss – die so genannte Mindestspeicherung von IP-Adressen. Häufig ist die IP-Adresse unser einziger Ermittlungs­ansatz, der überhaupt zum Täter führen kann. Kommen wir über die IP-Adresse nicht weiter, müssen Verfahren eingestellt werden – mit dem Risiko, dass noch andauernde Miss­brauchs­taten nicht unter­bunden werden können."

Anstieg von Missbrauchsdarstellungen auf Schülerhandys
Zahlen zeigen, dass Minderjährige im Umgang mit Gewaltphänomenen im Netz oft überfordert sind und unreflektiert agieren. Die meisten tatverdächtigen Minder­jährigen handelten nicht vor­sätzlich oder sexuell motiviert, so die Missbrauchs­beauftragte Kerstin Claus, sondern aus einer digitalen Naivität heraus: Vermeintlich "coole" Bilder oder Clips werden mit Musik, Geräuschen, Texten oder Anima­tionen versehen und tausend­fach weiter­geleitet. Vielfach werde gar nicht verstanden, dass es sich um Dar­stellungen von sexueller Gewalt handelt. Die aktuelle Aus­gestal­tung des § 184b StGB als Verbrechen – also als Straftat, die mindestens mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bedroht ist – erschwere den Umgang mit dem Phänomen. Denn es handele sich gerade nicht um "klassische Straftäter:innen", sondern um Minderjährige, die Miss­brauchs­darstel­lungen teilen, mit denen sie in der digitalen Welt in Massen ungefiltert konfrontiert werden. Der Fokus auf strafrechtliche Konsequenzen verkenne das Problem: "Hier braucht es (medien-)pädagogische Ansätze: Kinder und Jugendliche müssen in die Lage versetzt werden", so Claus, "das Material klar als sexuelle Gewalt­darstellungen einzu­ordnen und ihr eigenes Handeln und das ihrer Peer Group zu hinter­fragen. Hier sind vor allem Eltern und pädagogische Fachkräftekräfte gefragt." Aktuell binde die straf­recht­liche Verfolgung in diesen Fällen bei der Polizei wie den Staatsanwaltschaften enorme Ressourcen, die dann für die Verfolgung von klassisch krimi­nellen Täterkreisen, die solches Material erstellen oder auch mit kommer­ziellen Interessen verbreiten, fehlten. Der § 184b StGB müsse deswegen zeitnah angepasst werden, so Claus. "Ziel muss sein, dass eindeutig aus­beuterische Taten zu Lasten von Kindern oder Jugend­lichen weiterhin mit hohen Strafen geahndet werden, gleich­zeitig aber Fälle mit geringem Unrechts­gehalt frühzeitig einge­stellt werden können."

Es braucht eine fundamentale Stärkung des Kinder- und Jugendschutzes im Netz
Medienkompetenz allein könne und dürfe laut Claus jedoch nicht die einzige Antwort auf Gewalt­phänomene im Netz sein. "Es ist absurd, dass wir in der realen Welt durch­deklinieren, welche Räume ab welchem Alter von Kindern und Jugend­lichen genutzt werden können beziehungs­weise welche aus guten Gründen versperrt bleiben – wir aber gleichzeitig in der digitalen Welt Kinder und Jugend­liche weitgehend ungeschützt lassen." Es sei doch gerade das Ziel von Präven­tion, überall dort, wo Kinder und Jugend­liche sich aufhalten, Risiken zu identi­fizieren und über geeignete Schutz­konzepte best­möglich den notwen­digen Kinder- und Jugend­schutz konse­quent umzusetzen. Genau das sei Kern der EU-Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Miss­brauchs von Kindern. Jetzt gelte es, diesen Kern bestmöglich und rechts­konform umzusetzen. Deswegen sei es richtig, dass Anbieter verpflichtet werden sollen, die Risiken ihrer Platt­formen und der digitalen Angebote für minder­jährige User fortlaufend zu identifi­zieren und auch dafür zu sorgen, sie alters­ange­messen vor Gewalt­dar­stellungen oder auch poten­tieller Täter­ansprache zu schützen. Gesetze, die wir heute verankern, müssten zudem techno­logie­offen sein, damit künftige Entwicklungen im Bereich der KI im Kampf gegen digitale sexuelle Gewalt effektiv eingesetzt werden können. Claus fordert einen tragfähigen Konsens: "Wir müssen uns politisch wie gesellschaftlich dringend darauf verständigen, wie umfassend wir den Kinderschutz im Netz ausgestalten wollen, wo rote Linien verlaufen und wie wir den Kinderschutz mit den Rechten und Freiheiten im Internet in Einklang bringen."

Verantwortungsbewusste Politik braucht gute Daten
Claus beklagte zudem, dass bis heute zum Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugend­liche keine validen Aussagen möglich seien. Es fehle an Daten zu tatsächlichen Gefähr­dungs­lagen, zu Tatorten und zu Tatkon­texten sowie darüber, ob und wie Präventions­maß­nahmen oder Hilfe­angebote wirken. Hierfür brauche es regel­mäßige Erhebungen zum Aus­maß sexueller Gewalt an Kindern und Jugend­lichen. Erst so könnten Handlungs­felder priorisiert und Verän­derungen zeitnah erkannt werden. Claus fordert vor diesem Hinter­grund eine nationale Strategie zur Erhebung dieser Zahlen. Es brauche dringend ein eigenes Zentrum für Prävalenz­forschung. Hier schließe sie sich der Forderung des Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt an. Klares Ziel müsse sein, sexuelle Gewalt möglichst aktuell zu erfassen. Deswegen sollten vor allem junge Menschen insbesondere im schulischen Bereich befragt werden. Wesentlich sei, Befragungen mit um­fassenden Präventions-, Hilfe und Unter­stützungs­angeboten gut zu begleiten. Claus erwarte hier ein klares Signal seitens der Politik. Diese müsse die erforder­lichen finanziellen Mittel für Dunkel­feld­forschung zur Verfügung stellen: "Gute, verantwortliche Politik, zielgerichtete Polizeiarbeit und guter Kinder- und Jugend­schutz auf Bundes- und Landesebene können nur gelingen, wenn auch Daten aus der Dunkelfeldforschung verlässlich vorliegen und auf dieser Grundlage die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden."

 

Quelle und weitere Informationen: Unabhängige Beauf­tragte für Fragen des sexuellen Kindes­miss­brauchs, 23.05.2023, beauftragte-missbrauch.de

Informationen zur Kriminalstatistik 2022 stehen außerdem auf der Website des Bundes­krimi­nalamts zur Verfügung: www.bka.de