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Studie zu sexuellem Kindesmissbrauch im Sport veröffentlicht

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindes­miss­brauchs hat erstmals eine große Anzahl von Berichten Betroffener und Zeitzeugen zu sexualisierter Gewalt im Sport detailliert auswerten lassen. Etwa ein Fünftel der Personen berichtete über sexuellen Kindes­missbrauch im Rahmen des Sports in der DDR.

Die Studie der Unabhängigen Kommission zur Aufar­beitung sexuellen Kindes­miss­brauchs bestätigt, dass sexueller Kindes­missbrauch in verschiedenen Sportarten und insbesondere im organisierten Vereins­sport vorkommt. Die Betroffenen erlebten den Missbrauch überwiegend im Leistungs­sport und wett­kampf­orientierten Breiten­sport, seltener im Freizeitsport und Schul­sport. Grundlage der Studie sind 72 Berichte von Betroffenen sowie Zeit­zeuginnen und Zeit­zeugen. Damit wurde in Deutschland erstmals eine so große Anzahl Berichte zu sexu­ellem Kindes­missbrauch im Sport wissen­schaftlich ausgewertet. Die Studie beinhaltet zusätzlich drei persönliche Geschichten betroffener Menschen.

Die Auswertungen zeigen, dass zwei Drittel der Betroffenen sexua­lisierter Gewalt nicht nur einmal, sondern regelmäßig und zum Teil über einen langen Zeitraum ausgesetzt waren. In den meisten Fällen handelte es sich um (schwere) sexua­lisierte Gewalt mit Körper­kontakt. Die Tatpersonen stammen vorwiegend aus dem direkten oder nahen Umfeld und sind männliche Trainer, Betreuer oder Lehrer. Zudem befanden die Tatpersonen sich meist in machtvollen Positionen.

Fast ein Fünftel der ausgewerteten Berichte bezieht sich auf sexualisierte Gewalt im Rahmen des Sports in der DDR. Zu diesem Bereich lagen bisher kaum wissen­schaftliche Erkenntnisse vor. Was in der Studie deutlich wird, sind die besonderen Bedingungen innerhalb des DDR-Sport­systems, die sexua­lisierte Gewalt an Kindern und Jugend­lichen aber auch andere Formen von Gewalt und Vernachlässigung ermöglichten und es für Betroffene fast unmöglich machten, Hilfe zu erhalten. Die sehr frühe Talent­sichtung, Auswahl und Förderung sportlich begabter Kinder gehörte ebenso dazu wie das über allem stehende Ziel des sport­lichen Erfolgs, welches die betroffenen Kinder die Gewalt­erfahrungen dulden ließ. Zudem gab es in den Sportschulen und Internaten keine erwachsenen Vertrauens­personen. Die Kinder waren den Gewalt­handlungen von Trainern, Medizinern und sonstigen Sport­funktio­nären somit schutzlos ausgeliefert.

Die Studie liefert auch Erkenntnisse darüber, welche Erfahrungen Betroffene in den Organi­sationen des Sports gemacht haben, wenn sie die dort erfahrene Gewalt offenlegten. Die wenigsten Fälle sexuellen Kindes­miss­brauchs wurden aufgedeckt und aufgearbeitet. Betroffene erlebten stattdessen häufig, dass ihre Erfahrungen negiert, bagatellisiert und verschleiert wurden. "Sportorganisationen müssen ein Interesse daran haben, zu erfahren, was in ihrer Einrichtung in der Vergangenheit geschehen ist, auch um Kinder und Jugendliche besser schützen zu können. Darum braucht es ein gesetzlich verankertes Recht von Betroffenen auf Aufarbeitung, das gleichzeitig Institutionen dazu verpflichtet.", appelliert Prof. Dr. Heiner Keupp, Mitglied der Aufarbeitungskommission.

Die durchaus spezifischen strukturellen Bedingungen vor allem im organisierten Sport, erschweren es, dass sexualisierte Gewalt aufgedeckt wird. Dazu gehört beispielweise die Fixierung auf den sportlichen Erfolg, aber auch die Abhängigkeit von ehren­amtlichen Mitarbeitenden oder Sponsoren. Ebenso tragen das große Machtgefälle zwischen Sportlerinnen und Sportlern und den Trainern oder männlich dominierte Hierarchien in Vereinen und Verbänden dazu bei. Zudem steht das gemeinhin positive Image des Sports der Aufdeckung sexualisierter Gewalt oft im Weg. "Gerade die positive Erzählung des Sports macht es Betroffenen schwer, für ihr im Sport erfahrenes Unrecht und Leid Aufmerksamkeit und Hilfe zu erhalten", verdeutlicht Prof. Dr. Bettina Rulofs, die leitende Autorin der Studie. Für diejenigen, die als Kind im Sport sexualisierte Gewalt erleben mussten, löst der Sport das Versprechen auf Gesundheit, Persönlich­keits­entwicklung und sportliche Leistungs­entwicklung nicht ein. "Betroffene sexuellen Kindesmiss­brauchs im Sport machen genau die gegenteilige Erfahrung: Ihnen entstanden lebens­längliche Schäden für die Gesund­heit, Psyche sowie die Teilhabe am Sport und am gesell­schaftlichen Leben", so Rulofs.

Um geschützt über akute und vergangene Miss­brauchs­fälle sprechen zu können, fordern Betroffene eine vom Sport unabhängige Ansprechstelle, die Aufarbeitung initiieren kann. Angela Marquardt, Mitglied des Betroffenen­rats bei der UBSKM betont: "Betroffene, die das Schweigen brechen, haben die Grundlage für die vorliegende Studie gelegt. Zu oft behindern Vereine und Verbände bisher eine schonungs­lose Aufarbeitung von Fällen sexueller Gewalt. Ehrliche Aufarbeitung jedoch ist die Voraussetzung für einen grund­sätzlichen Wandel im Leistungs- und Breitensport. Der organisierte Sport ist dies den Betroffenen schuldig".

Die Studie "Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Kontext des Sports" steht als Download auf der Website der Aufarbeitungskommission zur Verfügung: www.aufarbeitungskommission.de

Quelle: Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmiss­brauchs, 27.09.2022