Ein Anstieg um 108,8 Prozent bei Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung von Darstellungen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen und eine weiterhin starke Zunahme bei der Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen durch Minderjährige – das zeigt die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2021 zu Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche. Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) Kerstin Claus und Bundeskriminalamts-Präsident Holger Münch haben die Zahlen am 30. Mai 2022 in Berlin vorgestellt.
Eklatanter Anstieg bei Missbrauchsdarstellungen
Laut PKS sind im Jahr 2021 die Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch um 6,3 Prozent auf über 15.500 Fälle gestiegen. Einen Anstieg um 108,8 Prozent auf über 39.000 Fälle gab es bei den Missbrauchsdarstellungen. Die jährlichen PKS-Zahlen geben die der Polizei bekannt gewordenen und durch sie ausermittelten Delikte an. Das Dunkelfeld insgesamt und auch der Anteil an Straftaten, von denen die Polizei keine Kenntnis erhält, ist um ein Vielfaches größer. Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland pro Schulklasse 1-2 Schülerinnen und Schüler von sexueller Gewalt in unterschiedlichsten Lebensbereichen betroffen sind.
Internationale Zahlen bestätigen weiteren eklatanten Anstieg von Missbrauchsdarstellungen – Europa ist mittlerweile Zentrum der Verbreitung
Neben den PKS-Zahlen verweisen auch internationale Zahlen auf eine Zunahme der sexuellen Ausbeutung von Kindern online. Nach Angaben des Jahresberichts 2021 der britischen Internet Watch Foundation (IWF) gab es im Jahr 2021 252.194 aufgefundene Sites mit abgebildetem, verlinktem oder beworbenem Material, das sind 64 Prozent mehr als im Vorjahr. Rund 38 Prozent der Websites, bei denen Material gemeldet wurde, zeigten Vergewaltigungen oder sexualisierte Folter von Kindern und rund 62 Prozent andere Missbrauchsdarstellungen. Die Meldestelle des NCMEC (National Center for Missing & Exploited Children) "CyberTipline" in den USA hat in 2021 29.3 Mio. Hinweise auf Missbrauchsdarstellungen erhalten, das sind 35 Prozent mehr als im Vorjahr, da belief sich die Zahl auf 21.7 Mio.
Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts (BKA): "Das gestiegene Hinweisaufkommen trägt wesentlich zur Aufhellung des großen Dunkelfeldes im Bereich sexueller Missbrauch von Kindern bei. Wir begrüßen das sehr: Schwerste Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche als schwächste Mitglieder der Gesellschaft sind besonders zu ächten, zu verfolgen und zu beenden. Deshalb tun wir alles, um einen möglicherweise noch andauernden Missbrauch frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Die steigende Zahl an Hinweisen bedeutet auch enorme digitale Datenmengen, die polizeilich ausgewertet werden müssen. Wir arbeiten deshalb im BKA ebenso wie in den Länderdienststellen mit Hochdruck daran, unsere technischen sowie personellen Ressourcen auszubauen und unsere Verfahrensabläufe im polizeilichen Verbund weiter zu verbessern. Neben der konsequenten Verfolgung der Taten sind präventive Maßnahmen und erhöhte Unterstützungsleistungen für Kinder von größter Bedeutung: Hierbei sind wir alle gefordert aufmerksam zu bleiben und uns bei einem Verdacht an die Polizei oder an Beratungsstellen und das Jugendamt zu wenden."
Die EU-Kommission veröffentlichte jetzt anlässlich eines Vorschlags für eine neue Verordnung zur wirksamen Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern aktuelle Zahlen, die deutlich machen, dass Europa mittlerweile zu einem Zentrum für Missbrauchsdarstellungen im Netz geworden ist: Über 60 Prozent des weltweiten Materials werden auf europäischen Servern gehostet.
Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus: "Ich hoffe, dass das geplante EU-Zentrum zur Prävention und Bekämpfung der sexuellen Gewalt gegen Kinder bald Realität wird. Wir brauchen hierfür eine gemeinsame Strategie und ein abgestimmtes Vorgehen, insbesondere bei der Strafverfolgung." Durch das Zentrum könnten Abgleichdatenbanken zentral gepflegt, unbekanntes Material vorsortiert werden, bei dem besonders schnell gehandelt werden muss, und die nationalen Strafverfolgungsbehörden dadurch entlastet werden. Betroffene sollen zudem künftig erfragen können, ob es Material von ihnen im Netz gibt: Claus: "Für Betroffene wird damit eine langjährige Forderung endlich umgesetzt. Zu wissen, dass Fotos oder Videos von Täternetzwerken oft jahre- oder jahrzehntelang weiterverbreitet werden, kann sehr belastend sein. Deswegen ist es wichtig, dass sie gezielt informiert werden, wenn Material gefunden und gelöscht wird."
Auch die Pläne der Europäischen Kommission, Online-Anbieter zu verpflichten, eine Risikobewertung vorzunehmen und auf Anordnung Material im Internet zu sichten, zu melden und zu entfernen, begrüße Claus grundsätzlich. "Wir müssen aber diskutieren, welche Rechte und Freiheiten im Internet uns elementar wichtig sind - und wo diese Rechte zugunsten des Kinderschutzes und der Rechte von Betroffenen gezielt eingeschränkt werden müssen. Beide Rechtsgüter - Datenschutz und Kinderschutz – müssen wir gut abwägen. Eine anlasslose Durchleuchtung von privater Kommunikation darf nicht das Ziel sein. Gleichzeitig muss uns allen klar sein: Um Kinder und Jugendliche besser zu schützen und fortgesetzte sexuelle Gewalt zu verhindern, müssen Missbrauchsdarstellungen schnell gefunden, gemeldet und gelöscht werden.
Starke Zunahme bei der Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen durch Minderjährige
Laut PKS hat sich auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsdarstellungen – insbesondere in sozialen Medien – weiterverbreiteten, erwarben, besaßen oder herstellten, in Deutschland seit 2018 mehr als verzehnfacht – von damals 1.373 Tatverdächtigen unter 18 Jahren auf 14.528 Tatverdächtige in 2021. Den meisten Minderjährigen sei nicht bewusst, dass der Besitz oder das Weiterleiten strafbar sei, auch fehle es an dem Bewusstsein, dass hier schwere und schwerste Gewalttaten an anderen Kindern und Jugendlichen verübt würden und die Weiterleitung auch ihre Empfänger schwer traumatisieren könne. Claus: "Gerade über Klassenchats seien die Ermittlungserfolge in dieser Gruppe auch einfacher zu erreichen, da das Unrechtsbewusstsein meist fehlt und deshalb auf Seiten der Minderjährigen keine Anstrengungen zur Vertuschung unternommen werden. Polizei und Beratungsstellen können hier viel zur Aufklärung beitragen. Gefordert sind aber vor allem auch die Eltern und Schulen, um pädagogische Antworten darauf zu finden. Gemeinsam sollten alle dazu beitragen, Minderjährige nicht unangemessen zu "kriminalisieren".