Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Kerstin Claus und die BKA-Vizepräsidentin Martina Link haben das "Bundeslagebild Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen" für das Jahr 2023 vorgestellt. Es wurde erstmals im vergangenen Jahr für 2022 vorgestellt und soll künftig jährlich erscheinen. Damit ergänzt das BKA seine bereits bestehenden Lagebilder, die sich beispielsweise mit der Organisierten Kriminalität, dem Menschenhandel oder mit Cybercrime befassen.
Das Lagebild beruht auf Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). In dieser werden die polizeilich ausermittelten Fälle, einschließlich strafbarer Versuchstaten erfasst. Zudem nutzt das Lagebild Daten des National Center for Missing & Exploited Children (NCMEC), welche dem Bundeskriminalamt übermittelt werden, um Hinweise von Internetanbietern und Serviceprovidern auf kinder- und jugendpornografische Inhalte zu prüfen.
Mit diesem neuen Lagebild wird der Blick für das Thema sexuelle Gewalt und sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen weiter geschärft. Das ist wichtig, um konsequent Bekämpfungs- und Präventionsstrategien zu entwickeln.
Kerstin Claus betonte, wie wichtig es sei, Antworten auf das Ausmaß sexueller Gewalt im Netz zu finden: "Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen geschieht gleichermaßen im Netz, wie im wirklichen Leben. Kinder und Jugendliche wachsen heute ganz selbstverständlich in einer Welt auf, in der sie nicht mehr trennen zwischen offline und online, sondern selbstverständlich und oft gleichzeitig beides miteinander verbinden. Wenn es also darum geht, heute Kinder und Jugendliche vor sexueller Gewalt - sowohl digital als auch analog - zu schützen, müssen längst erarbeitete Standards endlich systematisch auch für das Netz entwickelt, umgesetzt und nachgehalten werden. Und wir müssen uns klar machen: Hinter den vielen digitalen Bildern und Videos steckt oft akute sexuelle Gewalt, der Kinder hier und jetzt ausgesetzt sind. Es ist viel zu oft lang andauernder Missbrauch, der über die Vermarktung im Netz auch dort zu weiterer sexuellen Ausbeutung führt. Und in jedem einzelnen Fall sind es wir Erwachsene, die für den Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt verantwortlich sind, analog wie digital. Hier stehen wir vor immensen Herausforderungen, wie es allein schon die vorliegenden Zahlen der ausermittelten Fälle zeigen. Wir dürfen vor den Risiken nicht die Augen verschließen, sondern müssen handeln, um Missbrauch zu verhindern oder wenigstens frühestmöglich zu stoppen. Ein erster Schritt ist, die realen Risiken zu kennen, denen Minderjährige im Netz ausgesetzt sind. Das gilt für Eltern wie auch für Schulen. Nur dann können wir kompetent begleiten, auch wenn es um das Aufwachsen im digitalen Raum geht, in dem soziale Kontrolle so oft fehlt. Kinder brauchen kompetente Ansprechpartner:innen. Deswegen ist es so wichtig, dass Schulen den Schutz ihrer Schüler:innen im digitalen Raum als einen Teil ihrer Schutzkonzeptentwicklung mitdenken und konkret aufgreifen. Gleichzeitig stehen Online Anbieter in der Verantwortung, die Risiken für sexuelle Gewalt auf all ihren Plattformen zu minimieren und konsequent auftauchende Missbrauchsdarstellungen im Netz zu identifizieren und zu melden. Sie müssen sicherstellen, dass über von ihnen implementierte Sicherheitsvorkehrungen sexualisierte Gewalt effizient und bestmöglich verhindert wird. Medienpädagogische Angebote sind ein weiterer Weg, damit Kinder und Jugendliche ihre Handlungskompetenz im Netz verbessern und Anzeichen für Grooming und Anbahnungsstrategien für sexuelle Gewalt auch im Netz frühzeitig erkennen. Flankierend müssen wir die niedrigschwelligen Onlineberatungsstrukturen, die es mittlerweile gibt ausbauen und bekannter machen: Beratungsstrukturen, die auch anonym unterstützen, sind ein wichtiges Element sowohl im Bereich Prävention aber auch, wenn es darum geht, Taten aufzudecken und zu beenden."
Im Anschluss hatte Kerstin Claus Gelegenheit mit Ermittlern zu sprechen und sich über die besonderen Herausforderungen der Ermittlungsarbeit zu informieren.
Zahlen und Fakten
Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verzeichnet für das Jahr 2023 in Deutschland 16.375 durch die Polizei ausermittelte Fälle des sexuellen Kindesmissbrauchs (§§ 176, 176a, 176b, 176c, 176d, 176e StGB). Es wurden insgesamt 18.497 betroffene Kinder ermittelt. Hinzu kommen 488 Fälle von sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (§174 StGB) und 1.200 Fälle von sexuellem Missbrauch von Jugendlichen (§ 182 StGB). Ein Anstieg ist bei dem Umgang mit jugendpornografischen Inhalten zu verzeichnen. Die Fälle in dieser Deliktsgruppe (§ 184c StGB) stiegen um 31,2 % von 6.746 Fällen auf 8.851 Fälle. Insgesamt konnten 54.042 Fälle der Herstellung, des Besitzes oder der Verbreitung sogenannter kinder- und jugendpornografischer Inhalte (§§ 184b, 184c StGB) festgestellt werden.
Neben den PKS-Zahlen verweisen auch internationale Zahlen auf eine Zunahme der sexuellen Gewalt von Kindern online in 2023: Nach Angaben des Jahresberichts 2023 der britischen Internet Watch Foundation (IWF) zeigten 23 % der in 2023 dort gemeldeten Websites mit Missbrauchsdarstellungen Vergewaltigung oder sexualisierte Folter an Kindern. 41 % der abgebildeten Kinder sind im Alter von 7 bis 10 Jahren, was im Vergleich zu 2022 eine Steigerung um 25 % bedeutet. 54 % der Kinder sind im Alter von 11 bis 13 Jahren. Die Anzahl der von der IWF aufgefundenen Sites mit abgebildetem, verlinktem oder beworbenem Kindesmissbrauch hat 275.652 in 2023 betragen und stellt damit den höchsten Stand seit der Gründung der IWF vor 28 Jahren dar. Ein Anstieg ist auch bei der Verbreitung von selbsterstelltem Material via Smartphone oder via Webcam zu verzeichnen. Laut IWF sind dort im vergangenen Jahr 254.071 Fälle und damit 27 % mehr als 2022 gemeldet worden. Im Jahr 2023 nahm ein neues Phänomen der sexuellen Gewalt im Netz an Bedeutung zu: sexuelle Gewalt an besonders jungen Kindern. In 2.401 Fällen erstellten Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren Missbrauchsdarstellungen von sich selbst.